Über Poesietherapie

Poesietherapie

 

Poesietherapie versucht Linderung und Heilung durch den kreativen Gebrauch von Sprache. Sie macht sich dabei die Ausdruckskraft von Sprache zunutze, Situationen zu beschreiben, Gefühle sprachlich zu äußern, Unbegriffliches begrifflich zu machen und Sprachlosigkeit in sprachlichen Ausdruck, schriftlich oder mündlich, zu verwandeln.

 

Im Lexikon der Ästhetik ist zu lesen, dass Sprache „das wichtigste menschliche Verständigungsmittel“ sei; sie „gilt gemeinhin als Schlüssel zur Welt“. Die Bedeutung von Sprache für therapeutische Zwecke wird in der weiteren Definition noch deutlicher: Sprache „ist ein Zeichensystem und dient der Kommunikation. Soziale Beziehungen können mit Hilfe von Sprache aufgebaut, intensiviert, gestaltet, aber auch verhindert werden.“ [1] Hier wird Sprache als grundlegendes Medium zur Etablierung und Gestaltung, aber auch zur Verhinderung von Kontakten und Beziehungen gekennzeichnet.

 

 

 

„Rede, dass ich dich sehe!“

 

(Carl Gustav Jochmann: Über die Sprache, Motto)

 

 

 

Der Prozesscharakter von Sprache[2], ihre Wandelbarkeit sowie ihre grundlegende soziale Komponente und ihr künstlerisches Potential prädestinieren den literarischen sprachlichen Ausdruck als kreatives Medium in der Therapie. Kreatives Schreiben als therapeutisches Schreiben fördert die Selbstwahrnehmung und damit die Fähigkeit zur Empathie.

 

Entsprechend schreiben Hilarion Petzold und Ilse Orth in einer Einleitung zu einem poesietherapeutischen Standardwerk: „Die Sprache macht den Menschen zum Menschen.“ Neben dem experimentierenden Gestalten von neuen Ideen hat Sprache die Eigenschaft, ein soziales Gebilde zu sein. Sprache kann soziale und abstrakte Verbindungen herstellen und Zusammenhänge neu beleuchten. Als soziales Medium können subjektive, intersubjektive und gesellschaftliche Wirklichkeiten beschrieben werden und aus einer andersartigen Perspektive neue Erklärungen geliefert werden:

 

„Die Sprache als „intersubjektive Realität“ (sie ‚gehört’ allen Sprechenden) stellt Heilung in einen sozialen Kontext (Schipperges 1985), einen gesellschaftlichen Raum, in dem Krankheit „be-sprochen“ wurde, aus dem Ungreifbaren, Unbenennbaren herausgenommen und durch Benennung verfügbar gemacht wurde. Die Sprache leistet so Verbindungen, wo Unverbundenheit herrschte, bot Erklärungen, wo der Mensch dem Unerklärlichen ohnmächtig ausgeliefert war.“ [3]

 

Für viele Lebensbereiche ist Sprache essentieller Bestandteil: So bietet sie Trost in der Versprachlichung von Abschieden, Verlusten und Trennungen und hat seit jeher magische, religiöse und rituelle Funktionen. Gleichzeitig verfügt Sprache über Macht und Einfluß: Mythen und Märchen offerieren dem Einzelnen und ganzen Nationen Deutungen und Erklärungsmuster für ihre Existenz.

 

 

 



[1] Vgl.: Achim Trebeß (Hg.): Metzler Lexikon der Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart/ Weimar 2006, S. 357.

[2] In der ganzheitlichen Sprachbetrachtung des linguistischen Funktionalismus nach Wilhelm von Humboldt sind die Sprachen daher mit lebenden Organismen vergleichbar, die eingebettet in Denk- und Lebenswelten eine bindende Funktion innehaben: Als ernergeia stellen die Sprachen das bildende Organ der Gedanken dar und dabei ein „ständiges Hervorbringen, nicht ein fixes System, sondern ein Prozess“.

[3] Hilarion Petzold/ Ilse Orth (Hg.): Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten, Paderborn 1985, S. 22.